Das klassische Verständnis der klinischen Psychiatrie trennt klar zwischen Patienten und Ärzten, mit einer deutlichen Rollen- und Machtverteilung. Doch was, wenn psychiatrie-erfahrene Menschen, die eine Krise überwunden haben, ihre Perspektiven einbringen und die Behandlung so mitgestalten könnten? Diese Idee, die für viele noch ungewöhnlich klingt, wird bereits erfolgreich umgesetzt. Psychiatrie-Erfahrung wird hier nicht als Makel, sondern als Stärke und Qualifikation angesehen.
Programme wie Peer-Support, EX-IN-Genesungsbegleitung und Offener Dialog nutzen die Erfahrungen von Betroffenen, um andere Patienten zu unterstützen. Diese Ansätze haben ihren Ursprung in den 1980er Jahren in Großbritannien und den Niederlanden und werden heute in vielen Ländern praktiziert.
EX-IN: Ausbildung und Einsatz von Genesungsbegleitern
EX-IN steht für „Experienced Involvement“ und bedeutet die Beteiligung von Menschen mit eigenen psychiatrischen Erfahrungen. Dieses Konzept zielt darauf ab, dass ehemalige Patienten anderen Patienten helfen. Richtig umgesetzt, bietet EX-IN eine innovative Möglichkeit zur beruflichen und sozialen Teilhabe.
Wie alles anfing
Im Rahmen eines EU-Projekts lernte Jörg Utschakowski 2001 in Birmingham das Projekt C.H.A.N.G.E. kennen. Dieses Projekt, das von Psychiatrie-Erfahrenen und Mitarbeitern psychiatrischer Dienste gegründet wurde, verfolgte das Ziel, Alternativen zur stationären Behandlung zu entwickeln. In den beiden Krisenhäusern des Projekts konnten zwölf Personen in akuten Krisen aufgenommen werden, wobei alle Mitarbeiter selbst Psychiatrie-Erfahrene waren. Die Arbeit des Projekts wurde sowohl von den Nutzern als auch von den kooperierenden psychiatrischen Diensten als großer Erfolg bewertet. Ehemalige Nutzer berichteten, wie wichtig es für sie war, die Protagonisten ihres eigenen Genesungsprozesses zu sein und eigene Entscheidungen zu treffen.
Diese positiven Erfahrungen inspirierten die Idee, eine Ausbildung für Genesungsbegleiter zu entwickeln, die auf dem Konzept des „Wir-Wissens“ basiert. Dies bedeutet, dass aus individuellen Erfahrungen ein gemeinsames Verständnis entwickelt wird, das als Grundlage für die Unterstützung anderer dient. Helen Glover, die Projektleiterin von C.H.A.N.G.E., betonte die Wirksamkeit des Projekts, wies aber auch auf die Gefahr der Einseitigkeit hin, wenn nur die eigene Erfahrung zur Verfügung steht. Daher wurde die EX-IN-Ausbildung entwickelt, um ein breiteres Spektrum an geteilten Erfahrungen zu integrieren.
Die EX-IN-Bewegung hat sich seither stetig weiterentwickelt und vertieft. Das fachliche und sozialpolitische Interesse an EX-IN als Bestandteil gemeindepsychiatrischer Arbeit ist gestiegen. Dies liegt sowohl am teilhabeorientierten Konzept, das mehr Mitsprache Betroffener bei der Behandlung ermöglicht, als auch am therapeutischen Erfolg, der sich beispielsweise in Netzwerkgesprächen zeigt. Trotz der Herausforderungen hat sich EX-IN als eine erfolgreiche Methode erwiesen, um Psychiatrie-Erfahrene in Behandlungsteams zu integrieren und ihre Perspektiven zu nutzen.
Die EX-IN-Ausbildung
Im Mittelpunkt der EX-IN-Ausbildung steht die Entwicklung von Erfahrungswissen auf den Ebenen Ich-Du-Wir. Teilnehmer lernen, ihre psychischen Krisen zu verstehen und zu bewältigen, ihr Wissen zu teilen und gemeinsam neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Ausbildung beginnt mit der Reflexion und Strukturierung der eigenen Erfahrungen. Dies ermöglicht den Teilnehmern, ihre seelischen Erschütterungen zu erklären, in ihre Lebensgeschichte einzuordnen und den Sinn darin zu erkennen. Auf der Ich-Ebene entwickeln die Teilnehmer ein Bewusstsein darüber, wie sie ihre Krisen bewältigt haben und welche Strategien ihnen dabei geholfen haben.
Die nächste Ebene, das Du-Wissen, beinhaltet das Mitteilen des eigenen Erfahrungswissens an ein Gegenüber. Hier lernen die Teilnehmer, ihre Erfahrungen so zu kommunizieren, dass sie für andere verständlich sind. Diese Interaktion ermöglicht es, Rückmeldungen zu erhalten und das eigene Wissen weiter zu verfeinern. Durch diesen Austausch wird deutlich, welche Aspekte der eigenen Erfahrungen universell verständlich sind und welche spezifisch interpretiert werden müssen.
Schließlich führt die Ausbildung zur Wir-Ebene, dem Wir-Wissen. Hier geht es darum, gemeinsame Erfahrungen zu entdecken und ein kollektives Verständnis zu entwickeln. Dieser Prozess beinhaltet nicht nur das Teilen von Erlebtem, sondern auch das gemeinsame Verstehen von Phänomenen, die man selbst nicht erlebt hat. Dies fördert ein tiefes, gemeinsames Verständnis und eine stärkere Vernetzung unter den Teilnehmern. Auch das Erkennen von Grenzen des Verstehens und die Verständigung darüber sind wichtige Bestandteile dieser Ebene.
EX-IN: eine Erfolgsstory
Die EX-IN-Ausbildung hat sich als erfolgreiches Modell zur Integration von Psychiatrie-Erfahrenen in Behandlungsteams etabliert. In Deutschland gibt es mittlerweile mehere Ausbildungsstandorte, und auch in Österreich und der Schweiz breitet sich EX-IN zunehmend aus. Bulgarien und Polen haben ebenfalls erste Schritte zur Implementierung des Konzepts unternommen, und weitere Länder zeigen Interesse.
Im Dezember 2015 feierte EX-IN mit Unterstützung der Initiative zur sozialen Rehabilitation e.V. in Bremen das zehnjährige Bestehen des Projekts. Diese Feier machte die nationale und internationale Vielfalt und Verbreitung deutlich. EX-IN-Genesungsbegleiter arbeiten mittlerweile in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen, darunter Tageskliniken, Kliniken, Betreutes Wohnen, Wohnheime und sozialpsychiatrische Dienste. Diese breite Anwendung zeigt den Erfolg und die Akzeptanz des Konzepts.
Mit dem Erfolg von EX-IN entstand auch die Notwendigkeit zur Qualitätssicherung. 2011 wurde der Verein EX-IN Deutschland e.V. gegründet, der die Interessenvertretung und Qualitätssicherung der Ausbildung und Arbeit von Genesungsbegleitern gewährleistet. Der Name EX-IN ist mittlerweile geschützt, und nur zertifizierte Kurse und Dozenten dürfen ihn verwenden. Diese Maßnahme stellt sicher, dass die hohen Qualitätsstandards der Ausbildung und Arbeit aufrechterhalten werden.
Fazit
Die Integration von Psychiatrie-Erfahrenen in Behandlungsteams ist ein innovativer Ansatz, der die psychiatrische Versorgung bereichert. Durch ihre eigenen Erfahrungen bieten Genesungsbegleiter eine einzigartige Perspektive und tragen zur Verbesserung der Patientenversorgung bei. Die EX-IN-Bewegung hat in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen und wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
*Dieser Artikel basiert auf der Publikation „Experten aus Erfahrung“, herausgegeben vom Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V.